Bei der Mozartwoche 2019 wirken Sie in einem Konzert mit, das so ähnlich im alten Wiener Burgtheater am 23. März 1783 im Rahmen einer musikalischen Akademie stattgefunden hat – in Anwesenheit von Kaiser Joseph II., unter der Leitung Mozarts.

Ich wäre gerne dabei gewesen! Mozart kennenzulernen wäre ganz wunderbar gewesen. Nicht, dass ich mich in dieses Zeitalter zurückwünschte. Als Frau fühlt man sich wohler in unserer heutigen Gesellschaft. Trotzdem hätte ich gerne einen Einblick gehabt, hätte Mozart ganz aufmerksam beim Musizieren beobachtet. Vieles können wir heute nur aus seiner Musik und seinen Briefen erahnen – was er für ein Mensch war, welchen Charakter er hatte und worum es ihm ging. Es würde mich auch interessieren, ob meine Vorstellung sich mit der Wahrheit deckt oder nicht. Vielleicht hätte er mich als Sängerin sogar einmal gecoacht…

… oder sich in Sie verliebt, wie in Aloisia Weber (1760-1839), eine Cousine Carl Maria von Webers, die Mozart zwar nicht heiratete, aber der er bei dem Konzert mit ‚Se il padre perdei‘ „die Prächtigste aria in der opera“ gab, wie er schrieb.

(Lacht) Ja, das ist die Arie der Ilia, der Prinzessin von Troja und Tochter des Pria-
mus aus Idomeneo KV 366. Eine hoffnungsvolle Arie mit wunderschönem lyrischen Bogen. Ich werde insgesamt drei Arien aus dem Originalprogramm singen.

… die eingerahmt sind, wie damals, durch Sätze der Haffner-Symphonie KV 385 sowie Sätze aus Klavierund Violinkonzerten und andere Werke.

Für mich ist das ein sehr dankbares Repertoire, da die Arien wichtige Gesangsdisziplinen abdecken, sowohl den Koloraturgesang als auch den lyrischen Gesang; eine Vielfalt an technischen und stimmlichen Herausforderungen und die ganze Palette verschiedenster Emotionen. Mozart blickte wohl immer auf die Vorzüge der Sängerinnen und passte ihnen seine Kompositionen an.

In diesem Fall an Aloisia Webers „lyrischen, seelenvollen“ Koloratursopran, wie man schrieb, der sogar größere Höhen erreicht haben soll, als die in der Arie der Königin der Nacht.

Mozart wollte stets das Maximum herausholen. Ich denke, er hat sich selbst nicht so wichtig genommen. Als Mensch ebensowenig wie als Komponist, wenn er zugunsten einer Interpretin noch schnell etwas umgeschrieben hat, um die Stärken der jeweiligen Sängerin zum Vorschein zu bringen. Ich glaube: Teamwork war ihm wichtiger als die Eitelkeit des Komponisten. Trotzdem hat er sich nicht angebiedert und immer Meisterwerke geliefert. Solche extremen Spitzentöne oder verrückten Koloraturen waren nie Selbstzweck, sondern hatten immer einen tiefen emotionalen Wert. Der Interpretin hat er die Möglichkeit verschafft, zu brillieren. Die Inhalte aber blieben glaubwürdig und wahrhaftig verpackt.

„ich liebe daß die aria einem sänger so accurat angemessen sey, wie ein gutgemachts kleid“, schrieb Mozart. Ihre Mutter ist Schneidermeisterin.

(Lacht) Mozart bringt es auf den Punkt: Eine Arie oder eine Rolle muss wie ein auf Maß geschneidertes Kleid sitzen. Man muss sich darin frei bewegen können, es muss zum Charakter passen. So auch mit der Musik. Die Komposition muss gut in der Stimme liegen, man soll sich darin wohlfühlen. Als junge Sängerin eignet man sich manchmal Dinge an, die einem nicht von Natur aus liegen. Man zieht sich Kleider an, die einem nicht unbedingt stehen. Über die Jahre erkennt man, wo die Stärken liegen, man lernt sie zu zeigen, eben wie das ein ‚gutgemachts kleid‘ auch kann.

Hier in London singe ich gerade die Rosina in La finta semplice, eine ganz frühe Oper von Mozart. Und bin mal keine Kammerzofe, sondern eine Baronessa, eine Baronin. Bei der Rolle habe ich wirklich das Gefühl, dass sie mir auf den Leib geschneidert ist. Sie hat lyrische Phrasen und ist trotzdem nicht zu ‚gewichtig‘, hat sehr schöne getragene Melodien, bei denen ich mich sicher und wohl fühle. Da kann ich meine Stimme voll entfalten. Fasziniert bin ich auch von der spektakulären Koloraturarie der Giunia „Parto, m’affretto“ aus Lucio Silla KV 135.

Therese Teyber (1760-1830) sang sie beim Akademie-Konzert 1783. Sie stammte aus einer wichtigen Wiener Musikerfamilie und war 1782, ein Jahr zuvor, das Blondchen bei der Wiener Uraufführung von Mozarts Entführung aus dem Serail.

Was für Zeiten! Wenn man da gelebt hätte und an den Uraufführungen solcher Werke partizipiert hätte! Die Vorbereitungen für eine solche Koloratur-Arie sind enorm. Bis man das Ganze sozusagen ‚auf dem Kasten‘ hat, dauert es, nicht nur, weil es schnell und schwierig ist, sondern weil man auch drei- oder viermal so viele Noten zu singen hat.

Da sind „geschnittene Nudeln“ drin, schrieb Mozart, wenn es viele Koloraturen gab. Immerhin werden Sie die ,Königin der Koloraturen‘ genannt.

(Lacht) Die muss man sich erst einmal einprägen! Die Schwierigkeit im Konzert ist dann, die Nerven zu bewahren und den großen Bogen zu ziehen; man muss aufpassen, dass man unterwegs nicht zu viel Luft verliert. Man muss die Zügel in der Hand behalten, darf sich nicht verhaspeln und sich auch nicht von den Emotionen überwältigen lassen. Ich liebe Koloraturen, sie machen Spaß, sie sind das Quäntchen Adrenalin. Wenn man das einmal beherrscht, braucht man sich auch nicht davor zu fürchten.

Ein „gut gemachts kleid“ musste mitunter für beide Geschlechter passen, wie die Szene „Misera, dove son!“ – „Ah! non son io che parlo“ KV 369 zeigt. Ursprünglich für Sopran komponiert, sang beim Akademie-Konzert 1783 der Tenor Josef Valentin Adamberger – übrigens Mozarts erster Belmonte in der Entführung aus dem Serail.

Bei Liedern gibt es auch oft mehrere Ausgaben. Natürlich gibt eine Frau eine andere Farbe hinein und auch inhaltlich kann es zu einer anderen Aussage kommen. Doch in dieser Konzertarie, die ja keine Oper ist, spielt es nur eine sekundäre Rolle, ob die Arie von einer Frau oder einem Mann gesungen wird. Es geht vor allem um die Affekte und den menschlichen Konflikt. Auch in La finta semplice staune ich wieder einmal mehr, was der erst zwölfjährige Mozart emotional damals so draufhatte! Das ist berührend und man fragt sich: wie ist es möglich, dass ein kleiner Junge so viel über die Menschheit und zwischenmenschliche Beziehungen wusste?

Nicht bei dem Akademie-Konzert von 1783 erklang „Voi avete un cor fedele“ KV 217, eine Arie, die Mozart 1775 für eine Sängerin aus einer italienischen Theatertruppe, die in Salzburg gastierte, komponierte.

(Lacht) Da ist er wieder, der Praktiker! Hier wird es sogar einen Hauch dramatisch in dieser Buffa-Szene, die Mozarts großartigen musikalischen und tiefsinnigen Humor zeigt. Selbst im größten Klamauk ist immer noch eine Komponente drin, die dem Ganzen Tiefe gibt. In vielen Opern anderer Komponisten gibt es sehr glatte Figuren, die in ein paar Sätzen beschrieben sind. Oft muss man noch etwas dazu tun, damit es spannend wird. Bei Mozart ist aber alles da. Seine Opernpartien, seien sie noch so klein, sind so vielschichtig. Selbst vordergründig sehr lustige oder sehr derbe Figuren haben meist eine melancholische Seite. Bei Mozart entdecke ich immer wieder neue Dinge. Er ist ein sehr guter Lehrer. Wenn ich seine Partituren aufschlage merke ich, wie genau ich arbeiten muss. Er zeigt einem auf, wo es langgeht. Man kann über nichts hinweggehen, man muss jedes Detail berücksichtigen und ausarbeiten.

Das Akademie-Konzert von 1783 war für Mozart ein großer kommerzieller Erfolg. „Das theater hätte ohnmöglich völler seyn können, und alle logen waren besezt“, schreibt er. Mehr noch: der anwesende Kaiser Joseph II. hatte das Eintrittsgeld von 25 Dukaten im Voraus bezahlen lassen.

Davon habe ich noch nie gehört! Joseph II. hat wohl geahnt, welch großem Ereignis er beiwohnen würde…

Der schönste Satz in Ihrer Biografie, Frau Mühlemann, ist: „Bei uns daheim hat Stolz nichts mit Leistung zu tun.“

Ich wuchs in Luzern mit einer Schwester mit Down-Syndrom auf. Nicht jeder Mensch hat die gleichen Voraussetzungen. Die Frage ist, was jeder daraus macht. Deshalb gibt es für Leistung auch nicht die Messlatte. Unsere Eltern waren stolz auf uns, weil wir geliebt, geteilt haben, nett waren zu anderen – nicht wegen der Schulnoten oder Sonstigem. Es hat mir gut getan, dass die Leistungsgesellschaft auf meine Familie keinen Einfluss hatte. Das gab und gibt mir sehr viel Kraft. Dazu liegt es wohl in meinem Naturell, etwas, das ich gerne mache, möglichst gut machen zu wollen… Unabhängig von Kritiken, Meinungen anderer… sondern der Musik wegen.

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Ich habe mich noch nie an einen Ort projiziert oder von einer bestimmten Bühne geträumt. Die Begeisterung für Musik hat mich bisher dahin getragen, wo ich heute bin. Ich bin sehr glücklich, dass ich jetzt mit bedeutenden Künstlern arbeiten kann und darf. 2012 begegnete ich am Opernhaus Zürich Rolando Villazón. Wir standen mehrmals gemeinsam auf der Bühne, etwa in Donizettis L’elisir d’amore. Im Juli 2018 stand ich an seiner Seite als Papagena in Mozarts Zauberflöte in einer konzertanten Aufführung (für eine Produktion der Deutschen Grammophon) auf der Bühne. Was ich am meisten bewundere ist, wenn sich Menschen die kindliche Begeisterung, das Staunen, bewahren können. Rolando ist das beste Beispiel dafür. Er ist mitreißend, denn alles, was er macht, ist pure Lust, pure Freude, pure Liebe und Leidenschaft. Man kann so viel von dieser Energie mitaufnehmen, kann von ihm lernen. Ich habe mir geschworen: sollte ich einmal nicht mehr diese Flamme in mir tragen, dann höre ich sofort auf. Im Übrigen lehrt er einen auch das Durchhalten, denn eine Sängerlaufbahn ist nicht immer einfach. Er ermuntert uns junge Kollegen auf unserem Weg und macht kein Geheimnis aus den Hochs und Tiefs. Diese Ehrlichkeit berührt mich zutiefst und ist übrigens auch das Allerwichtigste, das ich in der Musik immer und immer wieder suche. Auch darum liebe ich Mozart und seine Musik so sehr. Und Rolando Villazón hat recht: Mozart lebt!

Mozart Magazin 52